Ist das Bundesverfassungsgericht anti-europäisch ?

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (BVerfG) hat am 5. Mai ein Urteil zu den seit 2015 durchgeführten Käufen von Staatsanleihen durch die EZB verkündet. Zu den Massnahmen also, die die EZB unternommen hat, um den europäischen Staaten bei der Bewältigung der Euro-Krise zu helfen, und um das Vertrauen der Finanzmärkte in einige dieser Staaten zu stützen.

Das BVerfG hat dabei, unerwarteterweise muss man sagen, die (teilweise) Inkompatibilität dieser Finanzpolitik mit dem Grundgesetz des grössten Staates der Eurozone, nämlich Deutschland, festgestellt. Dies zieht viele Fragen nach sich: nach dem Einfluss, den dieses Urteil auf die Geld- und Finanzpolitik der EZB haben wird, nach der wichtigen Frage, ob es der deutsche Wille ist, das Projekt Euro zu zerstören, und auch nach der Konkurrenz der höchsten Gerichtbarkeiten untereinander. Aber die Schlüsselfrage ist eigentlich, ob das BVerfG eine politische Agenda hat, und ob diese ist, eine grössere politische Integration der europäischen Staaten zu verhindern?

Zunächst einmal kann man feststellen, dass Klagen beim BVerfG zum Europarecht systematisch von Integrationsgegnern eingereicht werden. Bei vorliegender Klage war dies ein Vertreter der CSU, ein Mitbegründer der AfD und ein Wirtschaftsprofessor aus Berlin, der für seine aggressiven anti-europäischen Wortmeldungen bekannt ist. 

Indem das BVerfG teilweise diesen Klagen stattgegeben hat, begibt es sich auf die Linie derjenigen, die abseits vom politischen pro-europäischen “Mainstream” sind. So haben auch viele wichtige Bundespolitiker ihre Kritik an dem Urteil und seinen möglichen Auswirkungen geäussert. Der Bundesfinanzminister Olaf Scholz sieht das Glas immerhin noch halbvoll, und glaubt nicht, dass es aufgrund des Urteils ein Ende des EZB-Programmes geben wird (1). Andere Politiker sind da aber beunruhigter. Der Bundestagspräsident und ehemalige Finanzminister Wolfgang Schäuble meint, dass der Euro bedroht ist, und dass diese Situation niemandem gefällt (2). Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erwägt angeblich aufgrund dieses Urteils ein Verfahren gegen Deutschland (3). Und nun hat sich auch Angela Merkel geäussert, und hat sich, als Antwort auf dieses Urteil, für eine grössere europäische Integration und mehr Solidarität ausgesprochen – mehr Kritik an einem höchsten Gericht geht eigentlich nicht (4).

Die Frage der Haltung des BVerfG zu Europa wurde schon 2009 gestellt, als das Gericht den Lissabonner Vertrag für grundgesetzkonform erklärte. Das Urteil wurde damals von einer Kondition begleitet, nämlich die, das deutsche Parlament (Bundestag und Bundesrat) mehr einzubinden. Es war das erste Mal, dass man eine Konkurrenz zwischen deutscher Rechtssprechung und europäischen Institutionen herstellte – obwohl Deutschland an der Gründung und Ausarbeitung dieser wesentlich beteiligt war.

2010 dann hat das BVerfG ein Urteil geprochen, bei dem es um Arbeitsrecht ging (Honeywell-Rechtssprechung) und in dem es dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Kompetenzüberschreitung (“ultra vires”, jenseits seiner Kompetenzen) vorwarf. Das BVerfG sah also seine Rolle auch in der Bewertung des obersten Gerichtshofes der EU.

Wer ist eigentlich Andreas Vosskuhle, Richter am BVerfG seit 2008 und dessen Präsident seit 2010, den das politische Magazin Cicero“Präsidenten im Hintergrund” nennt (5) und im gleichen Atemzug sagt, dass er auf diesem Posten sehr viel mehr Gewicht hat als der Bundespräsident?

Er ist protokollarisch der fünfte Mann im Staat, aber Ciceroist der Meinung, dass dieser Posten im Allgemeinen unterschätzt wird. Andreas Vosskuhle hat während seines Mandates das Gewicht dieser Position voll ausgenutzt, in dem er sich auch öffentlich zu vielen verschiedenen Fragen zu Wort meldete. Seit einigen Jahren sagt er, dass die deutsche Verfassung eine weitere europäische Integration nicht hergeben würde, und dass das deutsche Volk, wenn es das denn wünsche, seine Verfasssung ändern müsste.

Die politische Positionierung des Präsidenten des BVerfG, dessen Stimme sicherlich ein grosses Gewicht in der Urteilsfindung hat, ist nicht einfach zu bestimmen: er war seinerzeit von der SPD nominiert worden. Aber vielleicht ist ein anderer Ansatz interessanter: von politischen Positionierungen abgesehen scheint die selbstgestellte Aufgabe des BVerfG zu sein, Integrationsbewegungen der EU auszubremsen. Warum? Weil es sich als Interessenvertreter des deutschen Volkes sieht. Da die Integrationsbewegungen der EU seiner Meinung nach dem deutschen Volke (was sich seinerzeit ein Grundgesetz gegeben hatte) nicht dient, sieht es als seine Aufgabe, diese auszubremsen.

Die Ironie ist, dass das Mandat von Andreas Vosskuhle am 6. Mai zuende gegangen ist, am Tag nach dem Urteil. Hat er sich mit diesem Urteil einen Knall zum Abschluss gewünscht?

Was er sich wünschte, erscheint allerdings unwichtig. Man kann nur feststellen, dass die verfolgte Agenda politisch und sogar nationalistisch eingefärbt ist: das Interesse des deutschen Volkes über allem. Die europäische Integration wird nur voranschreiten, wenn dies ein Vorteil für die Deutschen ist. Die vielbeschworenen Sparzinsen zum Beispiel, die in Deutschland ein Riesenthema, und in Frankreich vollkommen abwesend in der politischen Debatte sind: die deutschen Sparer (das ist die Mehrheit der Deutschen) fühlen sich durch die Niedrigzinspolitik der EZB geschädigt. Aus dem Grund haben auch viele Medien in Deutschland das Urteil des BverfG als einen “egozentrischen deutschen Kompromiss” qualifiziert (6), welches übrigens die Tür für eine allgemeine Anfechtung der EU-Institutionen durch andere Staaten weit öffnet.

Was ist die Lösung ? Vielleicht läge sie wirklich in einer Verfassungsänderung, welche das Interesse der europäischen Völker berücksichtigt. Die Zweidrittel-Mehrheit der beiden Parlamentskammern wäre wahrscheinlich. Die öffentliche Meinung müsste dann allerdings auch noch davon überzeugt werden, dass sich die Interessen der europäischen Völker mit dem Interesse Deutschlands durchaus decken könnten.

 

  1. https://twitter.com/OlafScholz/status/1257708755246092288
  2. https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/urteil-zu-anleihekaeufen-schaeuble-sieht-fortbestand-des-euro-durch-ezb-urteil-in-gefahr/25812782.html
  3. https://taz.de/EU-erwaegt-Verfahren-gegen-Deutschland/!5681608&s=bundesverfassungsgericht/
  4. https://www.liberation.fr/planete/2020/05/13/angela-merkel-vole-au-secours-de-l-euro-et-dans-les-plumes-des-juges-allemands_1788302?fbclid=IwAR17-NudSNScOuQR-hrUWGCzkJo1kUwLBRR9SAuDkKv9w6i0e8IfPgmOFbU
  5. https://www.cicero.de/innenpolitik/der-praesident-im-hintergrund/49091
  6. https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bverfg-ezb-eugh-pspp-entscheidung-kommentar-konflikt-polen-ungarn/

 

Mai 2020                                                Elisabeth Humbert-Dorfmüller

Elisabeth Humbert-Dorfmüller

Trésorière et responsable de l'Observatoire de la gauche européenne, Elisabeth Humbert-Dorfmüller est spécialiste de l'espace germanophone. Elle est membre du SPD (Parti Social-Démocrate d'Allemagne), et actuellement co-présidente de la section SPD à Paris, ainsi que co-présidente du SPD International, l'organisation du SPD à l'étranger. Elle est aujourd'hui consultante (Associée-Gérante chez SEE Conseil), et cultive par ailleurs un intérêt particulier pour la politique franco-allemande, pour l'économie et pour les entreprises.