Die deutsche Sozialdemokratie ist geschwächt und gespalten

Die Abstimmung der SPD-Mitglieder zur dritten grossen Koalition mit der Kanzlerin Angela Merkel war eine wichtige Etappe in einem schwierigen Moment in der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Diese Abstimmung ist der Ausdruck eines Kampfes zwischen einer « verantwortungsvollen » oder « pragmatischen » Fraktion, welche unbedingt regieren möchte, und einer Erneurungsfraktion, die bereit war, in der Opposition zu kämpfen, um zu den Fundamenten zurückzufinden. Dieser Kampf ist natürlich in allen europäischen Parteien der gemässigten Linken wiederzufinden : Parti Socialiste, Labour Party, Partito Democratico, um nur einige zu nennen.  Allerdings führt eine solche öffentlich ausgetragene Auseinandersetzung zu Wählerschwund und Glaubwürdigkeitsverlust. Die Umfragewerte der SPD sind folglich gesunken, seitdem die Partei in die Diskussion um eine grosse Koalition eingetreten ist.  Warum ? Weil der Kanzlerkandidat Martin Schulz am Wahlabend des 24. Septembers 2017 einer Neuauflage der grossen Koalition zunächst ein kategorisches Nein entgegengesetzt hatte (1). Anschliessend wurde klar, dass diese Haltung aufgegeben würde, und solch ein Sinneswandel überrascht selbst erfahrene Politikbeobachter.

Denn im Anschluss an das Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen wurde die Weigerung, an einer grossen Koalition teilzuhaben, von Martin Schulz bestätigt, woraufhin der Bundespräsident seine Partei (2) quasi zu einer kompletten Kehrtwendung gezwungen hat. Im Dezember haben die Delegierten beim Bundesparteitag dann für den Eintritt in Sondierungsgespräche gestimmt. Nach einigen weiteren Etappen wurde der Koalitionsvertrag den SPD-Mitgliedern präsentiert, und mit 66% angenommen. Die Beteiligung an dieser Abstimmung war mit 76% hoch, also durchaus repräsentativ für die Partei.

Ist diese Entwicklung nun gut für die deutsche Sozialdemokratie, oder hat die SPD « alle gerettet ausser sich selbst », wie der Spiegel bei Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses befindet (3) ?

  1. Warum diese Abstimmung eine dauerhafte Spaltung nach sich zieht

Die SPD hatte seit dem 2. Weltkrieg, im Gegensatz zu vieler ihrer europäischer Schwesterparteien, keine besonderen Probleme mit Flügelkämpfen. Der Hauptgrund dafür war, dass es keine kommunistische « Konkurrenz » gab, da sich die BRD geradezu als Gegenmodell zum Kommunismus verstand. Diese fehlende Radikalität schlug sich auch bei der Gründung von Gewerkschaften in der Nachkriegszeit wieder : die Einheitsgewerkschaft DGB hatte seit 1949 eindeutig eine reformistische und pro-westliche Haltung.

Die Partei ist somit ihrer sozialdemokratischen Linie durchweg treu geblieben, und hat dann 1959 mit dem Godesberger Programm jegliche Ideen marxistischen Ursprungs abgelegt.  Diese Häutung hat es der SPD ermöglicht, Macht zu übernehmen, und somit Kanzler für die BRD zu stellen : Willy Brandt (1969-1974), Helmut Schmidt (1974-82) und Gerhard Schröder (1998-2005). Selbst Willy Brandt, der als der Kanzler, der den Kommunisten die Hand gereicht hat, in die Geschichte eingegangen ist, hatte die SPD zuvor in der Mitte des politischen Geschehens positioniert (4). Er hielt dies für unabdingbar, um seine Wählerschaft zu erweitern, die, dank des Wirtschaftwunders, bereits zu einem gewissen Wohlstand gekommen war.

Nie hat in der jüngeren Geschichte der SPD der linke Flügel die Oberhand gehabt. Die Vorsitzenden kamen und gingen (es gab nach Willy Brandt elf davon) ; es waren sehr verschieden Persönlichkeiten mit dabei, die sich aber ideologisch nahe standen. Oskar Lafontaine (1995-99) bildet hier die einzige Ausnahme, aber die Bundestagswahl 1998 gewann natürlich sein Freund und Rivale Gerhard Schröder, ein Sozialdemokrat, der eher den wirtschaftlichen Kräften der Republik nahe stand. Lafontaine fühlte sich dementsprechend nicht ausreichend in der rot-grünen Regierung vertreten, und verliess Regierung und Partei fluchtartig, um einige Jahre später die Partei links von der SPD zu gründen, die heute Die Linke heisst. Da ist sie, die Konkurrenz links von der SPD, die es zu Zeiten der Teilung nicht geben konnte. Sie ist im Osten der Republik stärker als im Westen, und übertrifft in den meisten neuen Bundesländern die SPD, und das selbst in Berlin (5).

Nach Gerhard Schröder akzeptierte die SPD 2005 den Eintritt in eine grosse Koalition mit Angela Merkel. Der Abstand an Wählerstimmen zwischen den Koalitionspartern ist zu dem Zeitpunkt sehr klein, gerade mal einen Prozentpunkt. Die Schröderschen Reformen (Agenda 2010) werden von der neuen Regierung fortgeführt und vertieft.

Aber der Abstand vergrössert sich zunehmend : 2009 sind es schon 11 Punkte, und 2013 dann 16 Punkte zu Ungunsten der SPD. Diese hat es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, ihre Identität zu bewahren, da ihre Anliegen und Reformen, sei es innerhalb oder ausserhalb der Regierungen Merkel kaum von dieser zu unterscheiden waren. Angela Merkel hat in der Mitte regiert, mit Massnahmen, die mal eher sozial, mal eher wirtschaftsliberal inspiriert waren. Europapolitisch hat sie eine strenge Haltung eingenommen, die man auch austeritär nennen könnte – eine durchaus populäre Linie beim deutschen Wähler. Ihr Finanzminister zwischen 2009 und 2017, Wolfgang Schäuble, die Personifizierung dieser Politik, ist bis heute der beliebteste Politiker Deutschlands (6).

Bei den Bundestagswahlen im September 2017 verlieren allerdings beide Parteien stark, -9 Punkte bei CDU/CSU, -5 Punkte bei der SPD :

                         Quelle : tagesschau.de      

Warum haben die Wähler die beiden Volksparteien bestraft, ist es, weil diese sich zu sehr ähneln ? Der linke Flügel der SPD sieht jedenfalls seine Stunde gekommen : der Vorsitzende der Jusos, Kevin Kühnert, stellt sich an die Spitze der Neinsager, derjenigen, die sich einer neuen grossen Koalition mit der ewigen Kanzlerin entgegenstellen möchten.

Seine Argumente sind nicht von der Hand zu weisen, und führen zu ausführlichen Debatten in den Ortsvereinen, bei denen die Mitglieder sich eine Meinung bilden möchten. Der Parteivorstand verteidigt allerdings in einem Block die Zustimmung zur grossen Koalition. Warum diese Einigkeit ?

Die Gründe dafür sind wahrscheinlich nicht ideologischer Art, sondern hängen damit zusammen, dass die Partei bei Neuwahlen wohl noch weiter geschwächt würde. Ein neuer Wahlkampf wäre auch finanziell für die Partei eine grosse Belastung geworden. Bei solch einer Neuwahl, bei der die SPD aller Voraussicht nach ein noch schlechteres Ergebnis eingefahren hätte, wäre die Anzahl der SPD-Abgeordneten wohl gesunken und hätte das politische Gewicht der Partei weiterhin reduziert. Die Entscheidung der SPD-Führung, und dann auch der SPD-Mitglieder, eine neue grosse Koalition einzugehen, war also mehr pragmatischer als ideologischer Natur. Ideologische Fragen treten aber damit jetzt zwangsweise in den Vordergrund : Wird die reformistische Linke von jetzt ab die moderaten und proeuropäischen Bürgerlichen benötigen, um eine Mehrheit bilden zu können ? Oder sollte sie lieber nach Wegen suchen, eine linke Mehrheit zu bilden ? Eine fehlende eindeutige Antwort darauf schwächt die Sozialdemokratie beträchtlich, und das in ganz Europa. Die Allianz mit den Bürgerlichen wird von den einen als Todeskuss gefürchtet, von den anderen als einzigen Weg gesehen, pro-europäische Kräfte als Bollwerk gegen Populismus zu bündeln. Die SPD findet sich genau diesem Dilemma gegenüber, das bei ihren europäischen Schwesterparteien bereits viel Schaden angerichtet hat.

  1. Wie sich die Partei unter diesen Bedingungen erneuern kann

Die Parteiführung hat eine Selbsterneuerung beschlossen, um die Mitglieder davon zu überzeugen, dass die nächste grosse Koalition anders sein wird, und nicht unbedingt wieder schlecht für die Partei. Martin Schulz, der noch im Januar 2017 brillant zum Parteivorsitzenden gekürt wurde, hat seine Wahlniederlage politisch nicht überlebt. Somit wurde beschlossen, dass Andrea Nahles, die Fraktionsvorsitzende im Bundestag, und ehemalige Repräsentantin des linken Flügels, die nächste Vorsitzende werden wird. Was formell ein Vorschlag des Parteipräsidiums ist, gleicht in Wirklichkeit einer Amtseinsetzung, da Nahles die einzige vorgeschlagene Kandidatin ist. Seitdem haben sich zwei weitere Kandidaten deklariert, die aber bundesweit unbekannt sind, und mit ihrer Kandidatur lediglich das Recht für jedermann, zu kandidieren, unterstreichen wollen.

Andrea Nahles ist eine Frau der Überzeugung, die nicht aus dem Flügel der « Pragmatiker », oder anders gesagt, der Schröderianer, stammt. Ist sie damit schon eine Garantie, dass die Partei ein neues Gesicht präsentieren wird, zumindest ein Gesicht, was nicht die seit 12 Jahren von Angela Merkel geführte Politik verkörpert ? Davon kann man nicht ausgehen. Nahles ist von selber zum « Pragmatismus » konvertiert, und war eine Arbeits- und Sozialministerin, die auch von ihren Regierungskollegen aus der CDU geschätzt wurde. Sie ähnelt Angela Merkel mit ihrem Willen zur Macht, welcher unter einem einfachem Auftreten und einer relativ simplen Sprache, ohne Überheblichkeit, gut verborgen wird. Ihr Stil könnte der verlorenen Wählerschaft der SPD gut gefallen, den Arbeitern und den Prekären. Aber, und das ist vielleicht das Wichtigste bei ihr, sie hat nie ausgeschlossen, der Linken die Hand zu reichen. Ohne eine solche Perspektive ist eine Mehrheit links von der CDU in Deutschland undenkbar.

Eine solche « rot-rot-grüne » Mehrheit bleibt für die meisten SPD-Mitglieder das Ziel, sie wird aber zu den heutigen Gegebenheiten von den Wählern insgesamt nicht gewünscht. Dies ist mit der schon oben erwähnten antikommunistischen Haltung der BRD in der Nachkriegszeit zu erklären. Um sich aber je wieder eine/n sozialdemokratische/n Kanzler/in vorstellen zu können, wird man eine Mehrheit von dem Projekt überzeugen müssen. Dies bleibt eine schwierige Aufgabe, und hängt auch davon ab, ob die Linke sich dezidiert zu einer Regierungspartei entwickeln möchte.

  1. Die deutsche Demokratie steht neuen Herausforderungen gegenüber

Bei den Wahlen 2017 ist seit dem 2. Weltkrieg zum ersten Mal eine rechtspopulistische/-extreme Partei (AfD) in den Bundestag eingezogen, und das ziemlich massiv (94 von 709 Sitzen). Das ist natürlich bedauerlich, aber bedeutet auch, das der Prozess der « Normalisierung » Deutschlands voranschreitet : Parteien solchen Types existieren inzwischen in so gut wie allen europäischen Ländern, und haben Erfolg, weil vor allem die « Verlierer » der Globalisierung sich mit ihren Thesen identifizieren können. Letztere gibt es eben auch in Deutschland. Sie sind vielleicht nicht sehr oft arbeitslos (die Arbeitslosenzahl in Deutschland gehört zu den niedrigsten in Europa), sind aber arm, sowohl in absoluten als auch in relativen Werten (7). Zu glauben, Deutschland wäre seit 1945 für immer gegen parlamentarischen Rechtsextremismus gefeit, wäre, vorsichtig gesagt, kurzsichtig gewesen.

Aufgrund der neuerlichen grossen Koalition ist nun jedoch die AfD die grösste Oppositionspartei im Bundestag geworden. Es fallen ihr damit mehrere Privilegien zu, z.B. in Bezug auf Redezeit im Parlament, aber auch auf den Vorsitz der Ausschüsse : Der wichtige Haushaltsausschuss, traditionnell von der grössten Oppositionspartei geführt, hat nun einen Vorsitzenden, der sich aus den AfD-Parlamentariern rekrutiert. Das Gleiche gilt für den Rechts- und den Tourismusausschuss. Der Bundestag wird mit dieser neuen Gegebenheit leben müssen.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine Regierungsführung durch Allgemeinkonsens, so wie die grosse Koalition sie darstellt, zu einer Radikalisierung der Wähler führt. Das österreichische Beispiel ist in dieser Hinsicht aufschlussreich : die grosse Koalition (zwischen SPÖ und ÖVP) war seit dem 2. Weltkrieg die Regel, nicht die Ausnahme. Man kann natürlich nicht ganz sicher sein, dass dies das entscheidende Element für den Aufstieg der rechtsextremen Parteien war, aber es wird zumindest dazu beigetragen haben (8).

  1. Begünstigt die Schwäche der Sozialdemokratie die Radikalisierung (oder ist es umgekehrt) ?

Wir können das Phänomen in ganz Europa beobachten : Die Schwächung der Sozialdemokratie geht einher mit dem Erstarken des rechtspopulistischen/-extremen Gedankengutes. Die Beispiele sind vielfach : Italien, Griechenland, Ungarn, Polen, Niederlande, und so weiter. In Deutschland war der Abstand zwischen der SPD und der AfD bei der Bundestagswahl 2017 noch 8 Prozentpunkte gross. Fünf Monate später ist er, je nach Umfrage, auf zwischen 0 und 5 Punkte gesunken. Dieser Substitutierungseffekt ist wohl noch nicht abgeschlossen. Er stellt eine gewaltige Herausforderungen für die Politiker Europas dar : Überkommene Analysen und Erklärungsansätze helfen nicht mehr, den Wähler von heute zu verstehen, es muss ein regelrechter Paradigmenwechsel her. Es ist notwendig, der Trägheit der immer gleichen Wahlanalysen zu entkommen. Ausserdem ist eine radikale Infragestellung der sozialdemokratischen Doxa notwendig, und man kann nur hoffen, dass diese Dringlichkeit den europäischen Politikern und Theoretikern am Herzen liegt.

März 2018                                                               Elisabeth Humbert-Dorfmüller

 

Elisabeth Humbert-Dorfmüller

Trésorière et responsable de l'Observatoire de la gauche européenne, Elisabeth Humbert-Dorfmüller est spécialiste de l'espace germanophone. Elle est membre du SPD (Parti Social-Démocrate d'Allemagne), et actuellement co-présidente de la section SPD à Paris, ainsi que co-présidente du SPD International, l'organisation du SPD à l'étranger. Elle est aujourd'hui consultante (Associée-Gérante chez SEE Conseil), et cultive par ailleurs un intérêt particulier pour la politique franco-allemande, pour l'économie et pour les entreprises.